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Erfahrungsberichte Esoterik

Es begann harmlos mit einer Tarotkarten-Legung für 10 Euro…

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Tarotkartenstapel mit hellem Stein auf einem Tisch
Foto © Natalie Goodwin / Deyels

Der folgende Erfahrungsbericht wurde uns zur Veröffentlichung zugesandt.

An einem Wochenende habe ich die Messe „Spiritualität & Heilen“ besucht, das ist eine Veranstaltung mit zahlreichen Ständen und Vorträgen rund um Esoterik, Spiritualität und alternative Heilmethoden.Dort fiel mir ein kleiner Stand auf, an dem eine ältere Dame Kartenlegen anbot. 15 Minuten für 10 Euro, das klang für einen ersten Eindruck spannend. Sie legte die Tarotkarten aus und begann sofort mit einer Art Lesung.

Ab diesem Moment ging alles extrem schnell. So schnell, dass ich es erst im Nachhinein richtig einordnen konnte. Nach nicht einmal zwei Minuten sagte sie mir, sie könne zwei traumatische Ereignisse in meinem Leben erkennen: im 19. und im 31. Lebensjahr. Das hat mich in dem Moment echt getroffen, weil es tatsächlich zwei sehr schwere Jahre für mich waren. Danach folgten noch einige weitere Aussagen. Einiges passte irgendwie, anderes hätte wahrscheinlich auch auf andere Menschen zutreffen können. Und dann meinte sie plötzlich, ich hätte einen Mangel an Zink, Selen und Mangan, den ich unbedingt ausgleichen sollte.

Da die Zeit ihrer Kurzberatung schnell verstrichen war und weitere Kundinnen warteten, schlug sie mir eine energetische Traumaheilung vor: fünf Termine, jeweils eine Stunde pro Woche, für insgesamt 160 Euro. Das klang machbar und ich war neugierig. Dann folgte ein merkwürdiger Moment: Bevor ich mich verabschiedete, holte sie ein Set mit etwa zwanzig Gold- und Silber-Ringen hervor. Damit die Energieübertragung wirksam werden könne, müsse ich noch einen Ring für 40 Euro kaufen. Den müsste ich ab sofort täglich tragen, er würde die Energie über diese Zeit dauerhaft weitergeben. Ich hatte mich ja schon darauf eingestellt, also gab ich ihr das Geld und nahm einen Ring mit.

Die erste Sitzung war telefonisch, genauer gesagt verlief sie zehn Minuten, in der sie mir den Ablauf dieser und der nächsten Sitzungen erklärte. Den Rest würde sie ohne Telefonat fortsetzen. Ich fragte, ob wir nicht jeweils über die gesamte Zeit telefonieren könnten. Sie lehnte es ab, erklärte, dass sie „so komische Geräusche“ von sich geben würde und ich diese sicher nicht hören wolle. Ich solle einfach nur zur verabredeten Zeit die eine Stunde lang ruhig sitzen und die Beine nicht übereinanderschlagen, damit die Energie besser fließen könne. Alles andere würde sie per Energietransfer machen. Außer diese zehn Minuten Instruktion habe ich nichts mehr von ihr gehört.

Gespürt habe ich rein gar nichts. Verändert hat sich ebenfalls nichts. Am Ende habe ich insgesamt 210 Euro bezahlt und einen einfachen Ring erhalten, der mir im Nachhinein wie ein billiger Trick vorkam, um mich bei der Stange zu halten.

Ach ja, wegen des angeblichen Nährstoff-Mangels habe ich bei meinem Arzt extra ein neues Blutbild anfertigen lassen: Ein Mangel lag, wenig überraschend, nicht vor.

Einschätzung der Redaktion

Dieser Erfahrungsbericht zeigt deutlich, wie schnell esoterische Angebote wie Tarotkarten-Legen in hochsensible psychische Bereiche vordringen, und das ohne jede fachliche Qualifikation. Was als harmloses Kartenlegen beginnt, überschreitet innerhalb weniger Minuten klare therapeutische Grenzen.

Einige Punkte sind hierbei besonders auffällig:

  • Hohes Tempo der Beratung: Die schnelle Diagnose und Lösungsvorschläge lassen kaum Raum für Fragen oder kritisches Nachdenken. Das Tempo wird gezielt eingesetzt, um Entscheidungen zu beschleunigen. In der Verkaufspsychologie nennt man
    High-Pressure-Tactic„.
  • Gestaffeltes Angebot: Erst das günstige Einstiegsangebot, dann der kostenpflichtige Ring und schließlich die mehrwöchigen Sitzungen. So entsteht der Eindruck moderater Ausgaben, die sich am Ende aber summieren. In der Verkaufspsychologie nennt man das eine Foot-in-the-door-Technik: Ein kleiner Einstieg erleichtert spätere größere Zusagen.
  • Psychologische Bindung durch den Ring: Der Ring dient nicht nur als angeblicher Energieverstärker, sondern vor allem dazu, eine erste Investition zu schaffen. Wer bereits bezahlt hat, wird auch das „Energie-Paket“ nicht mehr absagen. Ein typisches Muster, das man „eskalierendes Commitment“ nennt: Wer einmal investiert hat, bricht seltener ab.
  • Verstärkung der Glaubwürdigkeit durch persönliche Treffer: Die Nennung von zwei Lebensjahren mit angeblichen Traumata ist auffällig. Ob Zufall oder Hellsichtigkeit, solche Treffer verstärken das Vertrauen in die Beratung deutlich. Hierbei handelt es sich um den Barnum-Effekt: allgemein gehaltene Aussagen wirken überraschend präzise und werden deshalb als ‚treffsicher‘ wahrgenommen
  • Fernbehandlung ohne Begleitung: Die Durchführung der Energieübertragung ohne jeden persönlichen Kontakt oder wenigstens begleitendes Gespräch ist äußerst fragwürdig. Der Wunsch der Kundin nach einem Telefonat wurde abgelehnt, was den unseriösen Eindruck verstärkt.

Für sogenannte „Energieübertragungen“ existiert kein wissenschaftlicher Nachweis ihrer Wirkung, weder allgemein noch im Zusammenhang mit psychischen Belastungen.

Wichtig: Die Behandlung traumatischer Erfahrungen gehört ausschließlich in die Hände von qualifizierten Psychotherapeut:innen! Selbst wenn alternative Methoden möglicherweise Wirkung zeigen könnten, ist es unverantwortlich, eine solche Behandlung ohne persönliche Begleitung durchzuführen. Menschen in einer verletzlichen Situation dürfen nicht allein gelassen werden, da sie ohne fachliche Unterstützung belastende Reaktionen möglicherweise nicht auffangen können.

Transparenzhinweis: Dieser Erfahrungsbericht wurde von uns zur Veröffentlichung vollständig anonymisiert. Alle persönlichen Angaben wurden zum Schutz der betroffenen Person entfernt oder verändert.

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Geschrieben von
Redaktion

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